Die Parteirechte in der Defensive

von Adrian Zimmermann am 21. Juni 2021

Vorbemerkung: Die seit rund vier Jahren vor allem medial auftretende «Reformplattform – Sozialliberal in der SP Schweiz» hat sich am 19. Juni 2021 als Verein konstituiert. Aus diesem Anlass publiziere ich hier meine kritischen Anmerkungen zum erstmaligen Auftreten der «Reformplattform», die in einer stark gekürzten und von Arnaud Thièry ins Französische übersetzten Fassung bereits im Frühling 2017 in «Pages de Gauche» erschienen sind, erstmals in voller Länge und in der deutschen Originalfassung. Ich habe dabei nur wenige Korrekturen vorgenommen. Im Wesentlichen scheint mir meine damalige Einschätzung der «Reformplattform» weiterhin zuzutreffen. Ihre Selbstbezeichnung als «sozialliberal» verstärkt sogar noch den Eindruck, dass die Genossinnen und Genossen vom rechten Parteiflügel programmatisch weniger am klassischen, stark in der Arbeiterbewegung verwurzelten, Reformsozialismus anknüpfen, als linksbürgerliche Ideologien übernehmen. Bedauerlicherweise stellen sie sich damit selbst ideengeschichtlich ausserhalb der sozialdemokratischen Tradition. In der politischen Praxis – das zeigt z.B. die begrüssenswerte Stellungnahme von Genosse Ständerat Daniel Jositsch – einem «Reformplattform»-Exponenten der ersten Stunde – zum Parteiaustritt von Regierungsrat Mario Fehr – scheint es sich bei den Mitgliedern der Sozialdemokratie aber durchaus um genuine rechte SozialdemokratInnen zu handeln. Es wäre zu begrüssen, wenn sie das heute weitgehend verwaiste ideelle Erbe der moderaten Strömungen der Sozialdemokratie (ethischer Sozialismus, Revisionismus etc.) selbstbewusst wieder aufnehmen würden, statt den letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch fortzusetzen, unklare linksbürgerliche Ideen mit sozialdemokratischem Inhalt zu füllen.
Als Parteilinke begrüssen wir grundsätzlich die Organisation der Parteirechten. Sie muss uns Ansporn sein, wieder aktiver zu werden. Denn es bleibt eine – weniger von der Parteirechten als von den bürgerlichen Medien verbreitete – Legende, dass die Parteilinke heute den Kurs der SP Schweiz bestimmt. Gewiss stammen viele der heutigen führenden ExponentInnen der SP Schweiz aus unseren Reihen. Doch in den Parlamentsfraktionen und vor allem unter den sozialdemokratischen Exekutivmitgliedern ist die Parteirechte auch heute sicher zumindest ebenso stark wie die Parteilinke.

(az, 21.6.2021).

Ein organisierter rechter Flügel

 Mit der Reformplattform tritt erstmals seit dem «Gurtenmanifest» vom Mai 2001 in der SP Schweiz wieder ein organisierter rechter Flügel in Erscheinung. Die sich «Reformorientierte Plattform in der SP Schweiz» nennende Gruppe trat kurz nach dem Parteitag der SP Schweiz in Thun vom Dezember 2016 erstmals an die Öffentlichkeit. Dort hatten die Initiantinnen und Initianten einen Rückweisungsantrag gegen das Positionspapier «Eine demokratische, ökologische und solidarische Wirtschaft zum Durchbruch bringen» (im Folgenden kurz «Wirtschaftsdemokratiepapier» genannt) gestellt, waren damit aber deutlich in der Minderheit geblieben. Am 27. Februar 2017 legte die Gruppe dann einen Entwurf für ein «Grundlagenpapier zu Werten und Positionen» vor. Alle diese Schritte wurden stark medial beachtet. Die Presse schwankte dabei zwischen der bekannten Tendenz, jede Meinungsdifferenz in der Sozialdemokratie gleich als «Spaltung» zu bezeichnen, oder das Papier als blosse persönliche Profilierungsübung von nach Regierungsämtern schielenden Politikerinnen und Politiker abzutun. Aus der Sicht der Parteilinken ist das Papier selbstverständlich kritisch zu betrachten. Trotzdem scheint uns die erste Interpretation vollkommen überzogen zu sein. Die zweite macht es sich ebenfalls viel zu einfach.

Dass sich auch der rechte Parteiflügel eine organisatorische Plattform gibt, dagegen kann die Parteilinke schon aus Gründen der Konsequenz kaum etwas einwenden. Als linke Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind wir bewusst Mitglieder einer demokratischen Massenpartei geworden, die sich durch ein breites Spektrum auszeichnet. Würde eine Plattform der Parteirechten zu besser fundierten Grundsatzdebatten innerhalb der Partei beitragen, könnte man das auch aus der Sicht der Parteilinken durchaus begrüssen.

Weniger kontrovers als «Gurtenmanifest»

Im Unterschied zum Gurtenmanifest warf die neue Plattform bisher allerdings parteiintern keine grossen Wellen. Das Papier provoziert kaum Diskussionen über die Zukunft der Partei. Auf das Gurtenmanifest hatten dagegen seinerzeit unter anderem Valérie Garbani, Pierre-Yves Maillard, Philipp Müller und der Schreibende mit einer scharfen Kritik in der Berner Tageszeitung «Der Bund» reagiert. Wir warfen der Gurtenmanifest-Gruppe vor, die «Umwandlung der schweizerischen Sozialdemokratie in eine vierte bürgerliche Partei» anzustreben.

Dass die Polemik 2001 eine derartige Schärfe annahm, erklärt sich vor allem daraus, dass damals in der Partei heftige Auseinandersetzungen um das Elektrizitätsmarktgesetz ausgebrochen waren. Der «Oltener Kreis» bildete – parteiintern und teilweise sogar darüber hinaus – den eigentlichen harten Kern der Gegner des schliesslich im Referendum abgelehnten Gesetzes. Die Gurtenmanifest-Initiantin und spätere Bundesrätin Simonetta Sommaruga war dagegen bekanntlich die wohl prominenteste Befürworterin der Strommarktliberaliserung in den Reihen der Partei.

Auch, wenn sich das Grundlagenpapier der neuen «reformorientierten Plattform» erst als Entwurf versteht, kann man wohl schon jetzt davon ausgehen, dass dieses weit defensiver als das Gurten-Manifest formulierte Dokument kaum derartige heftige Auseinandersetzungen auslösen wird.

Nach Blair und Schröder: Die Krise des rechten Parteiflügels

Das hängt auch mit dem internationalen Kontext zusammen: Das Gurtenmanifest war damals eindeutig als schweizerische Fortsetzung der Blair-Schröder Offensive für einen Rechtsruck der Sozialdemokratie zu verstehen. Rein elektoral gesehen war diese Linie im Ausland damals durchaus noch erfolgreich: Dass Blair ursprünglich nach Jahren einer marktradikal-reaktionären Abbaupolitik als kleineres Übel erschien, verwunderte ebenso wenig, wie dass die Regierung Schröder-Fischer nach der konservativen Stagnation unter Kohl als erfrischender Aufbruch galt. Noch waren Stimmen von links, die darauf hinwiesen, dass der Kurs von Blair und Schröder viel zu viele Konzessionen an den Neoliberalismus machte und mittelfristig die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie untergraben musste, in der Minderheit.

Heute wird kaum jemand mehr bestreiten, dass die Schröder-Blair-Linie abgewirtschaftet hat. Die kaum nachvollziehbaren Versuche in Frankreich diese Politik unter Hollande und Valls zu reaktivieren, führten in ein noch grösseres Debakel: Der Mann der für seine persönliche Karriere trotzdem Profit aus dieser Politik ziehen konnte – Emanuel Macron – hat sich nun auch ganz offiziell von der Linken verabschiedet. Gerade der Blick nach Frankreich zeigt aber auch, dass dort auch aus linkssozialdemokratischer Sicht kein Grund zum Optimismus besteht: Die verbliebene Linke ist derweil wieder einmal daran, sich gegenseitig zu zerfleischen.

Der Weg der niederländischen Sozialdemokratie in den Abgrund

Der Vergleich zwischen der SP Schweiz und Parteien wie der SPD, den französischen Sozialisten und der britischen Labour Party krankte allerdings immer an den Unterschieden der jeweiligen Parteiensysteme. Dass die SP Schweiz im internationalen Vergleich der sozialdemokratischen Parteien als links wahrgenommen wird, hängt auch damit zusammen, dass sie nie allein oder zusammen mit einem deutlich kleineren Juniorpartner eine Mehrheit bilden kann. Sie ist deshalb seit langem besser damit gefahren, klar das linke Spektrum zu besetzen und nicht zu stark nach der Mitte zu schielen. Zielführender als ein Vergleich mit den Parteien der grossen Staaten ist ein Vergleich mit der niederländischen «Partij van de Arbeid (PvdA)», die im historischen Durchschnitt ungefähr gleich stark wie die SPS ist. Zudem wirkt sie ebenfalls in einem stärker kompromiss- als konkurrenzorientierten politischen System. Wie die SPS hat auch die PvdA nach 1968 eine starke Öffnung zu den «Neuen Sozialen Bewegungen» vollzogen.

Doch seit den 1990er Jahren wurde sie zu einem eigentlichen Trendsetter der sogenannten «Neuen Mitte» und bewegte sich stark nach rechts. Das soziale Abfedern von als alternativlos betrachteten neoliberalen Umbauprogrammen betrachtete sie nun als ihre Kernaufgabe und dies meist in grossen Koalitionen mit der rechtsliberalen VVD. Ganz abgesehen davon, was es dazu aus grundsätzlicher Sicht zu sagen gäbe, führte dieser Weg letztlich auch elektoral in den Abgrund: Schon bei den Wahlen 2002 war sie wegen ihres Rechtskurses von 28.9% auf nur noch 15.1% Wähleranteil abgesackt.

Danach erholte sie sich wieder, bis zum katastrophalen Resultat bei den Wahlen vom 15. März 2017: Die einst stolze niederländische Sozialdemokratie stand nun noch bei 5.7%! Der manchmal für diesen Absturz bemühte Begriff der «Pasokifizierung» ist eine Verharmlosung: die PASOK war bei allem Verbalradikalismus das Wahlvehikel der etwas progressiveren Fraktionen der klientelistisch regierenden griechischen Eliten. Ihre Tradition reicht nur bis auf die Wiederaufbaujahre nach der von 1967-1974 herrschenden blutigen Militärdiktatur zurück. Die PASOK hat damit keine Wurzeln in der historischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die Niederlage der PvdA ist daher weit ernster und führt dramatisch vor Augen, was passieren kann, wenn Regierungsmitglieder von einstmals stolzen Arbeiterparteien aus den Augen verlieren, woher sie kommen und was die Mission ihrer Partei ist. Die SP Schweiz hätte durchaus seit den 1980er Jahren den Weg der PvdA einschlagen können. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass dies kurzfristig auch gewisse elektorale Erfolge gebracht hätte. Doch das tragische Schicksal der PvdA zeigt, dass dieser Weg mittelfristig eine Sackgasse ist.

Allgemeinplätze und schwammige Worthülsen

Wohl auch angesichts der Tatsache, dass die Bilanz sozialdemokratischer Rechtsentwicklungen im Ausland nicht glänzend ausfällt, ist das Papier der «Reformorientierten Plattform» sehr defensiv formuliert. Vieles, was im Papier der «Reformorientierten Plattform» steht, dürfte in der Partei zumindest auf den ersten Blick weitgehend unbestritten sein und es leuchtet nicht ein, dass es dafür das Papier einer organisierten Parteiströmung braucht. Wer bekämpft auf der schweizerischen Linken schon die Forderung nach mehr «Durchlässigkeit unseres Bildungssystems» sowie die Forderung, dass die Sozialversicherung vermehr auch «individuell und flexibel ausgestalteten Arbeitsverhältnissen» gerecht werden müsste? Allerdings stellt sich bei letzterem Punkt die Frage, ob ein grosser Teil dieser Arbeitsverhältnisse statt mit positiv konnotierten Begriff wie «flexibel» und «individuell» nicht präziser mit Begriffen wie «Unterbeschäftigung», «Scheinselbständigkeit» und «Prekarität» umschrieben werden müssten. Schon problematischer wird das Operieren mit schöntönenden Worthülsen beim Plädoyer für eine «eine bessere Koordination und Vereinfachung der verschiedenen sozialen Sicherungssysteme». Dahinter kann sich nun wirklich sehr vieles verbergen: Vom Ziel, ein universelles soziales Sicherungssystem nach skandinavischen Muster aufzubauen, bis hin zu sehr problematische Projekten zu einer Anpassung nach unten. Es sollte nicht vergessen werden, dass es die von der rot-grünen Regierung ursprünglich mit ähnlichen hehren Absichtserklärungen aufgegleiste Hartz IV-Konterreform war, die der SPD die grösste Wahlniederlage ihrer Geschichte eingetragen hat.

Ideologische Bekenntnisse statt konkrete Vorschläge

Durch das Papier hindurch zieht sich zudem noch ein anderer Zug. Es trägt einem stark ideologischen Charakter. Dabei handelt es sich um ideologische Versatzstücke, die man bisher zu einem grossen Teil nicht, oder nur am Rand mit der Sozialdemokratie assoziiert, sondern eher mit christdemokratischen und liberalen Strömungen. In der Debatte mit den Plattformleuten müsste genauer geklärt werden, warum sie diese Begriffe verwenden: Wollen sie – landläufig eher mit bürgerlichen Positionen assoziierte – Begriffe aus der linken Mitte mit neuen Inhalten füllen? Oder wollen sie sich klar von den Grundüberzeugungen und Zielvorstellungen der Sozialdemokratie abgrenzen?

Die sozialdemokratischen Grundüberzeugungen und Zielvorstellungen nennt das Parteiprogramm der SP Schweiz aber auch dasjenige der nun wirklich von niemandem des Linksradikalismus verdächtigten SPD nach wie «demokratischer Sozialismus». Dieser Begriff wurde früher – gerade in Abgrenzung zu den autoritären Modellen des Parteikommunismus durchaus auch von eher «rechten» Sozialdemokraten verwendet. Im Papier findet er sich kein einziges Mal. In einem auf dem Facebook-Profil der Gruppe zu findenden Statement versteigt sich der einstige Präsident der Generaldirektion der SBB, Benedikt Weibel sogar zur Aussage, er stütze die Reformplattform weil er «Sozialdemokrat (…) und nicht Sozialist» sei. Das zeigt ein bedenkliches Unwissen des alt-68ers Weibel über die Grundlagen der sozialdemokratischen Ideengeschichte aber vor allem auch,wie weit sich das Koordinatensystem der etablierten Politik nach rechts verschoben hat.

Wie falsch diese Einschätzung aber ist, dass diese ideologische Rechtsverschiebung der etablierten Politik auch die Köpfe der Wählerschaft links der Mitte erfasst hat, zeigte sich in den letzten Jahren überraschenderweise in den USA. Bekanntlich sind die USA unter den kapitalistischen Industrielstaaten mit demokratische Verfassung das einzige Land, in dem es der Sozialdemokratie nie gelang, zu einer der entscheidenden parteipolitischen Kräfte zu werden. Doch ausgerechnet dort zeigt sich, dass Bernie Sanders – keineswegs ein Linksradikaler, sondern ein solider Sozialdemokrat – mit seinem Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus ein sehr breites und erstaunlich junges Spektrum von Wählerinnen und Wählern ansprechen kann.

Wirtschaftsdemokratie oder «Soziale Marktwirtschaft»?

Eigenartig, ist, dass das Papier der Parteirechten dem Begriff der «Sozialen Marktwirtschaft» eine zentrale Bedeutung einzuräumen scheint. Schon im von Pascale Bruderer gestellten Rückweisungsantrag am Parteitag 2016 wurde dieser Begriff der «Wirtschaftsdemokratie» gegenübergestellt. Wahrscheinlich ohne sich dessen voll bewusst zu sein, nehmen die Autorinnen und Autoren hier einen Kampfbegriff auf, der in der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit von Seiten der CDU gegen die SPD und die Gewerkschaften eingesetzt wurde. Der in der Schweiz eher selten verwendete Begriff «Soziale Marktwirtschaft» wurde ursprünglich von deutschen neo- bzw. ordoliberalen Ökonomen (Ludwig Erhard, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack) geprägt. Sie versuchten damit den Anspruch zu erheben, dass das deutsche «Wirtschaftswunder» der Nachkriegszeit auf ihrer liberal-konservativen Wirtschaftspolitik beruhte. In Tat und Wahrheit waren dafür aber die – keynesianisch inspirierten – Marshallplan-Investitionen und die durch die Niederlage des Faschismus gestärkte Rolle der Gewerkschaften viel entscheidender.

Erst in den letzten Jahrzehnten haben sich im neoliberalen Spektrum noch extremere Strömungen durchgesetzt, denen dieser Begriff schon zu schwammig ist: So sprach etwa der sich heute zunehmend im rechtsextremen Dunstkreis bewegende einstige tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus von einer «Marktwirtschaft ohne Adjektive». Die neoliberalen Propagandisten der «sozialen Marktwirtschaft» waren wütende Gegner des deutschen Mitbestimmungsmodells. Bis in die 1990er Jahren vermieden es SPD und DGB deshalb den Begriff zu verwenden. Dass heute das deutsche «Wirtschaftsmodell» mit diesen beiden, ursprünglich konträren Konzeptionen verbunden wird, ist daher eine Ironie der Geschichte.

Gefangen im ideologischen Gegensatz «Markt» vs. «Staat»

Wenn man an die Haltung der Gurtenmanifest-Leute in der Frage der Elektrizitätsmarktliberalisierung denkt, ist es sicher zu begrüssen, dass die Reformplattform in ihrem Papier nun klar «staatliche Monopole als leistungsfähig und zweckmässig» für «die Grundversorgung der Bevölkerung mit Infrastrukturen» bezeichnet. Generell fällt aber auf, dass im Papier nur die stark ideologisch besetzten Begriffe «Markt» und «Staat» vorkommen. Wie unter anderem die englische Sozialwissenschaftlerin Diane Elson in ihren sehr originellen Überlegungen zu einer «Sozialisierung von Märkten» gezeigt hat, wird die Rolle dieser beiden Pole für eine demokratische Wirtschaftspolitik immer noch überschätzt. Für die Beschäftigung und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen immer wichtiger wird nämlich auch ein zwischen diesen Polen liegender, von Genossenschaften, Vereinen und weiteren gemeinnützigen Institutionen getragener Wirtschaftssektor. Gerade die Rolle dieses Sektors betont das Wirtschaftsdemokratie-Papier sehr stark.

Die Kritik des Rückweisungsantrag der Gruppe um Pascal Bruderer, das Papier sei «von einem dirigistischen Konzept geprägt» ist deshalb kaum nachvollziehbar. Berechtigter war dort der Einwand, dass «wie auch immer geartete Förderung einer ‘solidarischen Wirtschaft’ (…) die fünf Millionen Erwerbstätigen in der hoch entwickelten, globalisierten Wirtschaft der Schweiz (…) nur marginal» betreffe. Man könnte dem Wirtschaftsdemokratie-Papier durchaus auch aus linker Sicht vorwerfen, dass es sich zu stark mit genossenschaftlichen Experimenten und zu wenig mit wirtschaftlichen Machtstrukturen und ihrer Demokratisierung beschäftigt. Auch die im Rückweisungsantrag vorgebrachte Warnung vor Illusionen, Pensionskassengeldern für eine Wirtschaftslenkung verwenden zu können, ist durchaus bis zu einem gewissen Grad berechtigt. Umso bedauerlicher, dass das Grundlagenpapier der «Reformorientierten Plattform» diese Kritik nichts konkretisiert, sondern man sich auf ein ideologisches Bekenntnis zum – wie erwähnt stark bürgerlich konnotierten – Konzept der «Sozialen Marktwirtschaft» beschränkt.

Weiter war ein zentraler Kritikpunkt des Rückweisungsantrags, dass das Wirtschaftsdemokratiepapier, die Frage der «Chancen und Herausforderungen der digitalen Gesellschaft» kaum behandelt. Auch dieser Kritik wird man eine gewisse Berechtigung nicht absprechen können, auch wenn man sich die Frage stellen könnte, ob diese Fragen nicht eher in ein nur diese Frage behandelndes Papier gehören würden. Doch auch hier ist das Grundsatzpapier der «Reformplattform» enttäuschend: Abgesehen, von den weiter oben bereits erwähnten – parteiintern sicher unbestritten und äusserst allgemein gehaltenen – berufsbildungs- und sozialpolitischen Forderungen findet sich dazu nichts. Zumindest die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung müsste doch eigentlich in der Sozialdemokratie für alle Strömungen konsensfähig sein. Zudem verweist gerade das von den «Reformern» so geschmähte Wirtschaftsdemokratiepapier hier auf ein wichtiges Element: Ein Ausbau des Genossenschaftswesens bildet eine echte Alternative gegen die im Rahmen der Digitalisierung unter dem irreführenden Begriff «Sharing Economy» vorangetriebene Tendenz zu prekärer Scheinselbständigkeit.

«Sozialpartnerschaft» ohne Gewerkschafter?

Bis in die 1980er Jahre war die Strömung, die man damals als den rechten Flügel der Partei verstand, stark in Teilen der Gewerkschaften verankert. Wie schon beim Gurtenmanifest zeigt sich auch bei neuen Anlauf mit der Reformplattform, das diese Verbindung sich so gut wie vollständig aufgelöst hat. Sieht man von Daniel Jositsch ab, der den Kaufmännischen Verband präsidiert – eine zwar ausserhalb des SGB stehende, aber unbestritten sehr wichtige Angestelltenorganisation – scheint es unter den Initiantinnen und Initianten der «Reformplattform» keine gewerkschaftlich aktiven Genossinnen und Genossen zu geben.

Auch deshalb berührt es eigenartig, dass die «Sozialpartnerschaft» ein weiterer ideologischer Schlüsselbegriff des Grundlagenpapiers ist. Im Papier steht nämlich folgendes zu lesen: «Wir stehen zur Sozialpartnerschaft. Konflikte sollen so weit als möglich sozialpartnerschaftlich gelöst werden. Wir sind überzeugt, dass der Erfolg des schweizerischen Wirtschaftssystems darin besteht, dass zwischen den Interessen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden Kompromisse gefunden werden.»

Auch der Begriff «Sozialpartnerschaft» wurde lange von der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften nicht verwendet. Konrad Ilg (1877-1954), war als SMUV-Präsident 1937 der Hauptinitiant der «Vereinbarung in der Maschinenindustrie», dem sogenannten «Friedensabkommen». Dieses gilt bekanntlich bis heute als Symbol für das seit dem Zweiten Weltkrieg viel stärker von Verhandlungen als von Arbeitskämpfen geprägten schweizerischen Systems der Beziehungen zwischen den Arbeitsmarktparteien. Interessant ist nun, dass Konrad Ilg, der nach damaligen Verhältnissen klar als Mann des rechten Flügels der Sozialdemokratie galt, den Begriff der «Sozialpartnerschaft» so gut wie nie verwendete, sondern meist von «Vertragsgemeinschaft» sprach. Damit brachte er zum Ausdruck, dass Kompromisse zwischen den entgegengesetzten Interessenverbänden von Arbeit und Kapital immer die Einsicht beider Seiten brauchen.

Das Papier äussert sich leider nicht dazu, wer Gesamtarbeitsverträge und Verhandlungslösungen heute in Frage stellt. Es sind bekanntlich so gut wie immer Hardliner aus dem Bürgerblock, die meinen, wieder ihren «Herr im Haus»-Standpunkt durchsetzen zu können. Sozialen Fortschritt wird es auch in Zukunft nur geben, wenn es gelingt, die Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellten zu verschieben. Dabei wird es bisweilen nicht zu vermeiden sein, dass die Gewerkschaften ihre Streikfähigkeit unter Beweis stellen. Kommt es wirklich einmal zum Streik – was in der Schweiz nach wie vor sehr selten der Fall ist – heulen gerade diejenigen Unternehmer, die sich entgegen «sozialpartnerschaftlicher» Gepflogenheiten weigern, Gewerkschaften anzuerkennen, auf, dass die Streikenden die «Sozialpartnerschaft» verletzen würden. Wir hoffen sehr, dass die Genossinnen und Genossen vom rechten Flügel unserer Partei auch in Zukunft wissen, auf welcher Seite sie in diesen Fällen zu stehen haben.

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