Unfriendly Takeover – die Working Class Heroes sind tot

von Redaktion am 5. Mai 2021

Von Christof Berger

«There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.» («Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.») – Multimilliardär Warren Buffett in einem Interview mit Ben Stein in der New York Times, 26. November 2006.

Der notabene durchaus kritisch gemeinte Befund des US-amerikanischen Grossinvestors und Unternehmers Warren Buffets trifft gewiss auf die aktuelle politische Lage zu und hat vermutlich schon immer zugetroffen, einfach in unterschiedlicher Intensität. Wohlstand und Macht haben zu allen Zeiten zusammengefunden. Doch gab es immerhin mal eine Phase, während der sich Arbeitnehmende berechtigte Hoffnungen machen konnten, den Klassenkampf eigenhändig in den politischen Institutionen ausfechten zu können. Das ist allerdings lange her. Unter dem Vorwand der Effizienzsteigerung haben sich bei der Linken in den letzten drei Jahrzehnten fast undurchlässige Bildungshierarchien etabliert. Damit schliesst sie die «werktätige Bevölkerung» sukzessive von der ernsthaften aktiven politischen Teilnahme aus.

Herrschaft der AkademikerInnen

Im Schweizerischen Nationalrat sitzen seit 2019 noch 18 «Angestellte». Das ist weniger als 10%, und die sind selbstverständlich allesamt in führenden Positionen «angestellt». Die sogenannte «werktätige Bevölkerung» ist fast nur durch eine Branche repräsentiert, nämlich die Landwirtschaft (15 Mandate), welche dafür im Verhältnis zur Einwohnerzahl völlig übervertreten ist. Systemrelevante Berufe wie Verkaufspersonal sowie Pflegerinnen und Pfleger, Logistikangestellte, Baufachleute u.s.w. wie auch Selbständigerwerbende und Kleinunternehmer*innen, also etwa 60% der arbeitsfähigen Bevölkerung, sind im Parlament praktisch inexistent. Derjenige Gewerkschafter, der vor seinem Studium immerhin noch eine Maschinenschlosserlehre absolviert hatte, Corrado Pardini, wurde 2019 abgewählt. Bei der SP und den Grünen liegt der Anteil von Akademikerinnen und Akademikern dafür bei über 80%. Nur der Freisinn und die Grünliberalen stellen noch mehr AkademikerInnen, nämlich 85%. Ein Drittel der Nationalrätinnen und Nationalräte sind Berufspolitiker. Das Milizparlament droht Geschichte zu werden. Immer öfter steigen beispielsweise für die SP und die Grünen Politologinnen und Politologen gleich nach Studienabschluss direkt in Parteijobs oder das Kader der assoziierten Verbände (Verkehrsclub, Mieter*innenverband, KV, Gewerkschaften etc.) ein.

Diese assoziierten Verbände sind für eine Politkarriere wichtig. Ohne ein Spitzenmandat in einer dieser Organisationen und die daraus resultierende Unterstützung reicht es selten für einen Sitz im nationalen Parlament. Und die Verbände stellen praktisch nur Personal mit Hochschulabschluss ein, womit sich die Katze wieder in den Schwanz beisst.

Sozialarbeiter*innen-Jargon

Ich finde durchaus, dass die Linke auf ihre intellektuellen Eliten und ihre Akademiker*innen nicht verzichten soll und kann. Grundsätzlich möchte ich meinen Text als konstruktive Kritik verstanden wissen. Ich bin aber der Meinung, dass diese der Bewegung und ihrer Geschichte gegenüber in einer Verantwortung stehen. Und um auch dies klarzustellen: Ich möchte dem Gros des Partei- und Verbandspersonals keineswegs Verantwortungslosigkeit unterstellen. Allerdings ist der Vorwurf des Elfenbeinturms eben auch nicht unberechtigt. In den Diskurs der Linken hat sich beispielsweise so ein Sozialarbeiter*innen-Jargon eingeschlichen, den ich fatal finde: Auch wenn sie sich noch so Mühe geben, Sozialarbeiter*innen sprechen mit ihren «Klient*innen» nie auf Augenhöhe, da besteht ein soziales Gefälle. Gut gemeint ist dann oft das genaue Gegenteil von gut. Und ich möchte nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass nicht Teile unserer «Eliten» Verachtung für den schlechten Geschmack und die derbe Ausdrucksweise der Arbeiter*innen empfinden. Und damit einem Klischee aufsitzen. Das kann sehr überheblich und beleidigend wirken. Ich vermute stark, dass gerade auch deswegen in den letzten 30 Jahren eine erkleckliche Zahl der Mitglieder aus der Arbeiterschaft, Angestellte und Selbständige, die politische Seite gewechselt hat.

Demokratie funktioniert nur auf gleicher Augenhöhe

Es ist mir durchaus bewusst, dass weltweit bei Arbeitskämpfen, Umstürzen und Revolutionen praktisch immer auch «Eliten» federführend beteiligt waren und sind. Fast immer stammten die Ideengeber, Anstifter und Anführer aus der gebildeten Elite, oft aus der bourgeoisen Oberschicht. Aber ohne Unterstützung durch «das Proletariat» wären deren Ideen dann eben reine Luftschlösser geblieben. Und um diese Unterstützung zu erlangen, brauchte es damals und braucht es auch heute eine intensiv gelebte Basisdemokratie, braucht es die gleiche Augenhöhe. Das Geschichtsbild der Linken muss daher zwingend auch das Kollektiv ins Blickfeld fassen und nicht nur bei den «grossen» Männern (und den wenigen «grossen» Frauen) hängen bleiben.

Die linken Parteien fussen auf der Arbeiterbewegung

Die SP ist effektiv historisch gesehen klar eine Arbeiterpartei. Sie entstand Ende des 19. Jahrhunderts als politischer Arm der Arbeiterbewegung. Bis in die 20er-Jahre waren Gewerkschaften und Partei auch organisatorisch verbunden. Die sozialen Errungenschaften der Linken des 20. Jahrhunderts beruhen auf den Forderungen der Arbeiterbewegung. Die wichtigsten sind enthalten im Forderungskatalog, der 1918 beim Generalstreik vorgebracht wurde, nämlich:

  • Sofortige Neuwahl des Nationalrats nach dem kurz vorher angenommenen Proporzwahlrecht
  • Einführung des Frauenstimmrechts
  • Einführung einer allgemeinen Arbeitspflicht
  • Einführung der 48-Stunden-Woche
  • Reorganisation der Armee zu einem Volksheer
  • Sicherung der Lebensmittelversorgung
  • Eine Alters- und Invalidenversicherung
  • Ein staatliches Aussenhandelsmonopol
  • Eine Vermögenssteuer zum Abbau der Staatsverschuldung

Damals, 1918, wurde die 48-Stunden-Woche in der Schweiz umgesetzt. 1919 fand die erste Nationalratswahl nach dem Proporzsystem statt und ebenfalls in diesem Jahr wurden die ersten Schritte hin zu einer AHV unternommen. Bis zur Umsetzung dauerte es aber noch wesentlich länger. Die AHV wurde erst im Jahr 1948 eingeführt und das Frauenstimmrecht noch später, nämlich 1971. Und inzwischen scheinen viele Feministinnen vergessen zu haben, das ihre Geschichte auch auf den Kämpfen der proletarischen Frauenbewegung beruht.

Es dünkt mich ignorant, fahrlässig und zynisch, diese Grundlagen der Bewegung zu verraten mit dem Hinweis, die linke Wählerschaft bestehe inzwischen nun mal aus der oberen Mittelschicht und aus Besitzern von Wohneigentum. Und die unteren Milieus würden sich ja sowieso praktisch nicht politisch betätigen. So würde die Linke zum etwas sozialeren Freisinn mutieren und sich direkt in die Bedeutungslosigkeit manövrieren.

Hochkonjunktur der Nachkriegszeit und
Kalter Krieg

Rückblickend ist, recht grob wiedergegeben, die Zeitspanne zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1980er-Jahre in den westlichen Industrieländern von einer Ideologie des «Fordismus» oder der «sozialen Marktwirtschaft» geprägt gewesen. Der Begriff «Fordismus» bezieht sich auf den Autohersteller Henry Ford, welcher Autos für die breite Masse produzierte und seinen Arbeitern genügend hohe Löhne zahlte, damit sie sich diese Autos selbst leisten und so den Umsatz ankurbeln konnten. Die «soziale Marktwirtschaft» versucht, die Auswüchse der «freien Marktwirtschaft» zu lindern, indem sie diese mit sozialstaatlichen Korrektiven wie z.B. einer Arbeitslosenversicherung oder einer staatlichen Rente kombiniert.

Die Löhne stiegen also hoch genug, dass sich die Erwerbstätigen die Produkte ihrer Arbeit auch leisten und daneben noch etwas ansparen konnten. Damit wurde Nachfrage generiert und die Wirtschaft am Laufen gehalten. Unternehmer und Aktionäre verdienten ebenfalls nicht schlecht, teilten aber die Produktivitätsgewinne mit den Belegschaften nur deshalb einigermassen ausgewogen, weil man riesige Angst vor dem kommunistischen System hatte. Die Ideale der klassenlosen Gesellschaft und der bedürfnisorientierten Verteilung der Gewinne aus den verstaatlichten Betrieben hatten auch im Westen eine gewisse Anhängerschaft. Gleichzeitig haben die gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Gewerkschaften und linken Parteien, darunter insbesondere die Sozialdemokratische Partei, zahlreiche soziale Forderungen durchgebracht (z.B. Frauenstimmrecht, AHV, 42- Stunden-Woche). Es war nicht die von manchen erhoffte Revolution, aber immerhin. Der Kalte Krieg (der schwelende Dauerkonflikt zwischen den kapitalistischen Westmächten unter Führung der USA und dem kommunistischen sogenannten Ostblock unter Führung der Sowjetunion) bescherte so den Arbeitnehmenden und dem Mittelstand des Westens ein relativ angenehmes Leben. Bei den Sozialdemokrat*innen konnte ein SBB-Stationsbeamter Parteipräsident werden und ein Heizungsmonteur Bundesrat.

Mauerfall und neoliberale Wende

Doch dann begannen die kommunistischen Systeme des Ostblocks zu erodieren. Der Kalte Krieg verlor seinen Schrecken. Insofern ist es kein Wunder, dass gerade zu jener Zeit eine ökonomische Idee aus den 30er-Jahren wieder Aufwind erhielt: Der Neo- oder Wirtschaftsliberalismus. Diese Ideologie besagt, dass alles wirtschaftliche Denken und Handeln sich selbst regle und dass es für die «Wirtschaft» deshalb möglichst keine Einschränkungen respektive gesetzliche Regelungen geben solle. Es ging und geht also im Wesentlichen darum, das Kapital vor demokratischer Einflussnahme zu schützen. Unter dem Einfluss dieser Denkart wurden weltweit gültige institutionelle fixe Rahmenbedingungen geschaffen, die es der Politik jedweder Färbung systematisch verbieten, Umverteilung zum Nachteil des Kapitals zu betreiben. Infolge der Globalisierung verlegten zudem viele Firmen Arbeitsplätze in Billiglohnländer und es entstand ein ruinöser Wettbewerb der Nationalstaaten um Steuervorteile, um die Unternehmen an sich zu binden.

Die neoliberale Wende ging auch an den sozialdemokratischen Parteien nicht spurlos vorüber. In Deutschland und England übernahmen mit Gerhard Schröder und Tony Blair Politiker das Ruder, wie wir sie vorher nur aus dem Bürgerblock kannten. Auch in der Schweiz gab es innerhalb der Partei zunehmend Flügelkämpfe, doch als das längerfristig demokratiepolitisch grössere Problem sollte sich das Phänomen der «Professionalisierung» erweisen.

Entlastung der Basis

Bis in die 80er-Jahre bestanden die linken Parteien, Gewerkschaften und Verbände aus relativ starken Ortsgruppen resp. Sektionen, welche die Politik dieser Organisationen stark prägten und mitbestimmten. Regionale und nationale Sekretariate unterstützten diese Ortsgruppen oder Sektionen. Und natürlich prägten die angestellten Sekretärinnen und Sekretäre die Politik wesentlich mit. Unter dem raueren politischen Wind und konfrontiert mit einem kontinuierlichen Mitgliederschwund wurden die Sektionen ab den 90er-Jahren «entlastet» und die Sekretariate ausgebaut. Damit verschob sich die politische Themensetzung zunehmend in die Sekretariate.

Problematisch ist dies in mehrfacher Hinsicht. Wenn man sich nämlich das Feld der Mitglieder einer Partei, die sogenannte «Parteibasis» (oder zum Beispiel die Basis einer Gewerkschaft) als Legislative denkt und die Sekretariate als Exekutive, dann hat man denselben Effekt, wie durch die bundesrätlichen Notmassnahmen während der Corona- Pandemie: die Exekutive beschliesst mehr oder weniger eigenmächtig weitgehende Massnahmen.

Zudem war es im 20. Jahrhundert noch üblich gewesen, dass Parteikader (oder Gewerkschaftskader) aus der eigenen Basis rekrutiert wurden. Besonders aktive Sektionsvorstandsmitglieder hatten so eine gewisse Karrierechance in der Partei oder in den assoziierten Verbänden. Auch dies hat sich grundlegend geändert, seit ausschliesslich Bildungskriterien über die Anstellung von Sekretariatspersonal entscheiden: ohne Hochschulabschluss geht es nun praktisch nicht mehr, Learning-by-doing-Kompetenzen sind wertlos geworden. Nur was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nachhause tragen. Und so schliesst die ehemalige Arbeiterpartei und schliessen die Gewerkschaften die effektiven Arbeiterinnen und Arbeiter sukzessive von der ernsthaften politischen Teilnahme und insbesondere von den bezahlten Jobs und Mandaten aus. Bei den seit den 1970er-Jahren ebenfalls im linken Spektrum aktiven Grünen läuft es im Übrigen auch nicht anders.

Schon klar, in der Realwirtschaft sind die Gegebenheiten nicht anders. Aber lassen sich die Wettbewerbsrealitäten der Marktwirtschaft wirklich 1:1 auf die Politik übertragen? Setzt sich nicht gerade die Linke für Umverteilung von oben nach unten und gerechte Löhne ein?

Sollte dieses Ideal nicht auch bei Mitbestimmung und politischer Mitgestaltung gelten? Ich meine damit nicht nur die Mitbestimmung in den Betrieben. Denn es macht einen fundamentalen Unterschied im Selbstwertgefühl, ob man sich selbst zum Handeln ermächtigt oder ob man sich anwaltschaftlich vertreten lässt.

Politik für die Andern

Der Paradigmenwechsel verlief fliessende und er fiel der Mehrheit umso weniger auf, als dass sich die Mitglieder der Jugendorganisationen der meisten Parteien seit jeher aus dem Umfeld der Universitäten rekrutierten. Der Anteil von Akademikerinnen und Akademiker innerhalb der politischen Parteien war daher schon immer relativ hoch. Trotzdem, Arbeiterinnen und Arbeiter waren bis gegen Ende des 20. Jahrhundert in der Linken mehr oder weniger integriert, man machte Politik für sich und seinesgleichen. Heute wird die Politik für «die da draussen» gemacht – für die Werktätigen, für die Armutsbetroffenen, die Migrantinnen und Flüchtlinge.

Der neue Stil machte sich bei der SP bereits 1995 mit dem Einzug des Rechtsanwalts Moritz Leuenberger in den Bundesrat bemerkbar. Er positionierte sich als kulturaffiner Schöngeist, der mit jeder Faser seiner selbst ausdrückte, dass er mit den gewöhnlichen Leuten noch nie Säue gehütet habe. Als er kurz nach seiner Wahl an einem Gewerkschaftskongress mit den Sorgen der anwesenden Delegierten konfrontiert worden war, liess er sich beleidigt zur Entgegnung hinreissen: «Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass ich jetzt in meiner Funktion als Bundesrat nicht mehr ‹der liebe Genosse› bin.»

Irgendwie falsch fühlt es sich jedenfalls an, wenn heute Nationalrät*innen plötzlich ihre Sympathie für «die Büezer» öffentlich kundtun. Das ist, wie wenn ein Finanzberater vom schönen, freien und genügsamen Leben der Bergbauern schwärmt. Wobei das «Büezer»- Bild ohnehin von rechts bis links zum klischiert platten Kitsch hochstilisiert wird. «Mir chrampfe jede Tag vom Morgestrahl bis ids Aberot, üses Parfüm stinkt nach Schweiss u Bschütti u nume i üsere Heimat isch es schöön», jodeln mittlerweile unzählige rechtspopulistische Alpenrocker und Büezer-Buebe aus allen Lautsprechern und auch die Gewerkschaften zeichnen in ihren Publikationen ein nur unwesentlich differenzierteres Bild: Arbeitnehmende sind dort ausschliesslich in ihrer Berufskleidung porträtiert, die Bauarbeiter mit Helm und Warnweste, die Pflegerinnen in ihren Spitalkitteln, Pöstler in ihrer Postuniform und Detailhandelsverkäuferinnen in der jeweiligen Firmenschürze. Das sind oft keine Individuen, sondern als Kollektiv inszenierte ferngesteuerte Arbeitersoldaten, denen man allenfalls noch ein mehr oder weniger interessantes Hobby zubilligt. Dabei hat sich die Arbeitswelt weg von den Industriearbeitsplätzen hin zu den Dienstleistungsjobs bewegt.
Und ein erklecklicher Anteil der Erwerbstätigen arbeitet selbständig, oft auf eigene Rechnung und ohne Angestellte.

Umbruch bei der Arbeiterbildung

Vor hundert Jahren glaubte die Linke noch an mündige ArbeiterInnen. Der Schweizerischen Gewerkschaftsbund und die SP gründeten1922 die Schweizerische Arbeiterbildungszentrale, um primär den gewerkschaftlichen Nachwuchs zu fördern, Sektionsvorstände und Sekretäre auf ihre Aufgaben vorzubereiten und arbeitsrechtliche und politische Kompetenzen zu erlangen. Das Bildungsinstitut der Gewerkschaften gibt es immer noch, seit 2001 unter dem Namen Movendo. Heute wird allerdings wesentlich strikter als noch vor zwei Jahrzehnten zwischen Kursen für «Mitglieder» und solchen für «Mitarbeitende» unterschieden. Sekretäre können mittlerweile einen «Lehrgang für Gewerkschaftssekretärin/Gewerkschaftssekretär mit eidg. Fachausweis» absolvieren. Den

«eidg. Fachausweis» gab es 1997/98 noch nicht, als der Schreibende, damals Vizepräsident einer lokalen Gewerkschaftssektion, den «Lehrgang der Gewerkschaftsschule Schweiz» besuchen durfte. Das Engagement der «Mitglieder» dürfte sich wohl über kurz oder lang ermüden, wenn sie merken, dass ihnen nur die ehrenamtliche Gratis-Knochenarbeit an der Basis zugedacht ist.

Die Politik schwärmt derweil vom dualen Berufsbildungsmodell, hofft auf bessere Chancengleichheit und verspricht ohnehin zur Lösung fast aller Probleme mehr Bildung (was zudem nicht riskant ist, lässt sich doch der Erfolg oder Misserfolg der Massnahme erst in 15 bis 20 Jahren bemessen). Gleichzeitig kann man damit ausdrücken: Wenn ihr Werktätigen euch an der Mitbestimmung und an ein wenig Wohlstand beteiligen wollt, müsst ihr halt noch ein Studium nachholen. Oder wenigstens eure Kinder an die Uni schicken, wenn die es später besser haben sollen. Ob dieser Rat Coiffeusen, Automechaniker, Zugbegleiterinnen und Call-Center-Agents überzeugt? Die Linke setzt sich seit jeher für Wirtschaftsdemokratie ein, also für die Mitbestimmung der Arbeit über das Kapital. Sie muss sich nun aber je länger je mehr der Frage stellen, ob sie die eigenen Ideale in adäquater Form in den eigenen Organisationen auch lebt.

Was definiert eine politische Bewegung?

Wie gut der geschichtliche Hintergrund den heute agierenden Linken überhaupt noch bewusst ist, weiss ich nicht. Oft habe ich jedenfalls den Eindruck, dass er für die an den Universitäten ausgebildeten Berufspolitiker*innen keine Rolle spielt. Dass für sie lediglich das Tagesgeschäft zählt. Die Linke muss sich die Frage stellen, ob ihr ihre Politzirkel und Initiativkomitees mit jeweils einem knappen Dutzend Mitgliedern tatsächlich genügen. Sie muss sich fragen, wie sich in unserer individualisierten und zersplitterten Lebenswelt wieder Kollektivität und politisches Handeln herstellen lässt. Und sie muss sich auch mit ihrer Geschichte kritisch auseinandersetzen, darf Fehlentwicklungen nicht beschönigen und sollte daraus die Lehren für die Zukunft ziehen.

Und das bringt mich zur Frage: Was eigentlich definiert eine politische Bewegung respektive eine politische Partei? Viele werden jetzt sicher antworten: «Der Wettbewerb des besseren Arguments oder der besseren Idee.» Das ist sicher nicht falsch. Aber nur damit mobilisiert man keine Bewegung. Der Ideenwettbewerb taugt allenfalls als Orientierung im demokratischen Prozess. Für eine Bewegung braucht es hingegen doch noch einiges mehr: Sie muss wissen, wohin sie will, muss eine glaubhafte Utopie entwickeln, die erstrebenswert und erreichbar erscheint; sie muss Religion, Familie und Heimat sein; muss Perspektiven aufzeigen, Menschen fördern, Menschen befähigen. Nur so ist sie basisdemokratisch, ist sie glaubhaft.

Werden die Gewerkschaften zu Versicherungen?

Es dürfte interessant sein, in den nächsten Jahren die Weiterentwicklung der Gewerkschaften zu beobachten. Viele Gewerkschaftssekretär*innen, die noch aus den Berufsfeldern und Betrieben heraus rekrutiert worden waren, fanden zwar eine Zeit lang noch Aufgaben in den Regionalsekretariaten. Doch fielen nicht wenige dieser Stellen in den letzten zwei Jahrzehnten Rationalisierungsmassnahmen zum Opfer. Für einige der betroffenen Stelleninhaber*innen bedeutete dies einen Abstieg ins Prekariat – wie soll ein ü- 50-Gewerkschaftssekretär auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch eine Stelle finden? Ganz wenigen gelang der Aufstieg in die Geschäftsleitungen. Doch diese Generation wird in den nächsten Jahren pensioniert. Werden sich dann die Arbeitnehmerorganisationen definitiv zu einer Art Versicherungen entwickeln? Und gibt es dann definitiv nur noch Unterstützung für diejenigen Berufsgruppen, welche leicht zu organisieren sind und für die mit wenigen Grossbetrieben Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen werden können? Was ist mit den landwirtschaftlichen Erntehelfer*innen aus dem Ausland? Was mit den Freischaffenden?

Der Klassenkampf muss Kernanliegen bleiben

Das Elektorat der linken Parteien hat sich in den letzten Jahren zusehends von der «Arbeiterschaft» zu den linksliberalen urbanen Schichten verschoben. Dies wohl nicht nur wegen der Deindustrialisierung, sondern auch, weil die Partei die entsprechenden Milieus zusehends nur mehr «anwaltschaftlich» vertritt. Die «Klassenkampffrage» jedoch ist und bleibt das zentrale Kernanliegen linker Politik. Nicht nur die SP, auch grüne PolitikerInnen sind heute in den Gewerkschaften gut vertreten. «Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt», brachte es der Dichter und Revolutionär Georg Büchner schon 1835 auf den Punkt. Die Linke wird es sich somit nicht leisten können, die klare Positionierung in der Verteilfrage zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeit und Kapital sowie zwischen nichtakademischer und akademischer Bildung ersatzlos durch andere, ebenfalls wichtige Themen wie die Klimafrage oder die Gleichstellung der Geschlechter zu ersetzen. Diese Themen sind mit dem Klassenkampf verknüpft. Wieder zu einer glaubwürdigen ArbeitnehmerInnenpolitik zu finden, ist allerdings keine leichte Aufgabe. Und sie muss umgehend angepackt werden.

Christof Berger, Jahrgang 1959, wohnt in 3032 Hinterkappelen. Er ist Co-Präsident der IG Freischaffende syndicom und Mitglied Zentralvorstand syndicom sowie Vorstandsmitglied der SPplus Wohlen BE, er sass von 2002 bis 2008 für die SP im Berner Stadtrat.

Er räumt ein, selbst nicht dem Arbeitermilieu zu entstammen. Sein Vater war ein nicht sehr geschäftstüchtiger Grafiker, die Mutter Damenschneiderin und die Einkünfte der Familie waren ärmlich. Seine Eltern fühlten sich dem Kunst- und Kulturmilieu zugehörig und verachteten die ihrer Ansicht nach «ungehobelten» Arbeiter*innen. Seine Wurzeln sind somit im Bohème-Prekariat anzusiedeln. Er hat aber rund 10 Jahre lang am Bahnhof Bern im Eisenbahn-Rangierdienst gearbeitet und dort warmherzige und interessierte Menschen kennengelernt.

Politisiert wurde er während der 80er-Bewegung sowie durch die Gewerkschaftsarbeit. www.christof-berger.ch

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